Computer

Torloses Tor

Das Internet entwickelt sich zum neuen Medium für Kirchen und Sekten, Gurus und Satanisten.

Jess Weiss ist 23 Jahre alt, ein junger Amerikaner, gerade mit der Schule fertig und ohne Job. Er lebt bei seinen Eltern in der Kleinstadt Boca Raton in der Nähe von Miami, und weil die Suche nach einer Stelle länger dauert und die öden Samstagabende einfach nicht enden wollten, hat er mit ein paar Kumpels eine neue Religion gegründet.

"SuperChurch" nennen die Jungs aus Florida ihre Sekte, der Name ist schon ein eingetragenes Warenzeichen; täglich schauen mehrere tausend Gläubige in der SuperChurch vorbei. Doch Jess und seine Freunde haben keine Kirche gebaut, kein staubiges Hinterzimmer als Versammlungsort gemietet: Die Anhänger treffen sich zum Meditieren im virtuellen Datenraum.

Eine Texttafel mit der Kirchenhierarchie, ein paar grob gerasterte Porträts der Kirchengründer, die 15 wichtigsten Gebote der SuperChurch ("Kauf niemals ein Frettchen", "Wenn Du die Spur wechselst, benutze den Blinker") bilden den Kern der Juxreligion. Die komische Faszination entsteht wie bei ernsthaften Religionen auch im Kopf. Der Bildschirm wird zum Meditationsmedium.

Ob Spaßgemeinde oder etablierte Staatskirchen, raffgierige Sekten oder versponnene Gurus - mehr als 700 verschiedene Kongregationen und Glaubensrichtungen scharen im Internet alte und neue Schäfchen um sich. Die genaue Zahl schwankt, täglich entstehen neue Religionsaußenposten, aber dafür schließt auch manche Cyberkirche ihre Pforten wieder.

Von den Atheisten bis zu den Anhängern der altiranischen Lehre von Zarathustra reicht das digitale Religionsangebot. Da gibt es Bilder von Zengärten ("Suche das torlose Tor"), neue Infos von den Hare Krishna oder Gesänge der Buddhisten.

Manchmal mieten die Sekten kommerzielle Computer, um ihre Informationen im Internet zu veröffentlichen. Doch viel öfter mißbrauchen eifrige Studenten Uni-Rechner, um religiöse Infos ins Netz einzuspeisen. Amerikanische Universitäten gestatten ihren Studenten die Spielereien im Netz als Religionsfreiheit.

Die Teufelsanbeter rund um den Amerikaner Anton Szandor LaVey ("Die Satanische Bibel") haben ihr umfangreiches Material ("Hell - The Online Guide to Satanism") auf den Computer der Marshall-Universität im US-Staat West Virginia gespielt. So erreichen die Satanisten mehr als 35 Millionen Internet-Benutzer auf der ganzen Welt. Und die Lehren des 1986 gestorbenen Gurus Jiddu Krishnamurti ("Die Wahrheit ist ein Land ohne Wege") sind auf einem Computer der Technischen Universität Berlin abrufbar.

Ob Satansanhänger oder brave Katholiken, die Chancen, über den Datenraum neue Jünger anzusprechen, sind fast schon demokratisch gerecht. Niemand überwacht die Angebote, es existiert keine Zensurbehörde, und wer interessante Texte und Bilder im Netz publiziert, kann fast immer auch mit Publikum rechnen. Allein spannende Inhalte entscheiden über die Beliebtheit.

Die Internet-Fans, in der Überzahl jung, männlich und finanzkräftig, sind für alle Religionen interessant. Die jungen Single-Männer sind es schließlich, die am schnellsten aus den etablierten Kirchen abwandern. Der New Yorker Erzbischof John O'Conner predigt deshalb bereits regelmäßig zur Cybergemeinschaft, seine Themen reichen von Moral bis zu praktischen Gebetstips. "Ich fühle mich wie auf dem Raumschiff Enterprise", sagt der Katholik.

Zu den aktivsten Nutzern des Cyberspace gehören die geschäftstüchtigen Scientologen. "Wir werden sämtliche Mittel des Internet benutzen, um Scientology international zu verbreiten", heißt es in Dokumenten der Sekte. Schon sprechen Anhänger der Abzockersekte von einer neuen Ära.

Aber auch Scientology-Opfer tummeln sich im Internet: Ein regelrechter Kleinkrieg tobt zwischen Gegnern und Fürsprechern der Sekte, die oft versucht, Kritiker mit juristischen Mitteln mundtot zu machen. Die Kontrahenten beschimpfen sich, versuchen den Computer des jeweiligen Widersachers mit einer Lawine von elektronischen Briefen zu verstopfen oder löschen Botschaften - ohne Zustimmung des Autors.

In einem elektronischen Brief forderte Elaine Siegel vom Büro für "Spezielle internationale Angelegenheiten" (auch als Geheimdienst der Sekte bekannt) die Scientologen auf, im Internet möglichst viele positive Beiträge über die Gemeinschaft zu publizieren. Kritiker sollten auf diese Weise aus dem Netz vertrieben werden. Siegel: "Wir werden nicht länger dulden, daß unsere Religion im Internet kritisiert und geplagt wird."

Schließlich sind viele Cyberspace-Surfer, oft zu später Stunde allein vor dem Computer, leicht zu beeinflussen: "Einer Person, für die der Computer zum Partner geworden ist, fehlt ein wichtiger emotionaler Bereich. Das ist die Lücke, in welche die Sekten hineinspringen können", sagt Susanne Schaaf von der Zürcher Sektenberatungsstelle InfoSekta.

So gefährlich sind Spaßreligionen wie "The First Church of Cyberspace" oder die SuperChurch von Jess Weiss gewiß nicht. Doch erste Suchterscheinungen, so der Cyber-Messias, hätten sich auch schon bei seinen Anhängern eingestellt. "Einige Typen schreiben mir bis zu 15 Briefe pro Tag, die sind einfach irre."